Menschen vor Fähren

Es gibt ganze Reihen von Büchern, die uns Menschen im Hotel schildern. Vicki Baums Roman „Menschen im Hotel” ist nur einer. Es gibt fast so viele Bücher über Menschen auf dem Schiff. Schicksale a la ,,Titanic" sind nur die berühmtesten. Aber Schicksale, die sich „kurz vor" dem Hotel oder der Fähre entscheiden, gibt es auch: kurz vor der Fähre nach Dänemark.

Da stehen sie wie die Bücher in Regalen in langen Reihen und warten darauf, benutzt zu werden: Autos in den markierten Linien, die auf die Fähre führen. Hinter dem Ticketschalter fragt ein pitschwaches Mädchengesicht, ob wir schon ein Ticket haben oder nicht?. Sie ist ein Pippi-Langstrumpf-Typ: Runder Schädel, Sommersprossen, lachende Augen und tatsächlich Pippis rote Haare in deren zwei kurze Zöpfe gequetscht, die im fast rechten Winkel abstehen.

Unser Wagen muss genau vor dem kabinenähnlichen Abfertigungsschalter warten, bis die nächste Fähre kommt und da ich alt genug bin, frage ich die junge Dame, ob ich richtig liege: Ist sie ein Fan von Astrid Lindgren bzw. Pippi? Die junge Dame grinst (hat Pippi Langstrumpf je gelächelt?) und nickt. So kommen wir ins Gespräch. Diese Pippi Langstrumpf hier lacht so frisch in die unausgeschlafenen Autofahrergesichter (es ist sechs Uhr morgens), sitzt in einem noch winzigeren Gefängnis als es eine Fähre ist, verkauft immer dieselbe Ware zu immer demselben Preis an ständig anonym bleibende Kunden - dass sie diesen öden Job nicht immer machen dürfte. Also „Was machen sie denn sonst so? Wenn sie nicht hier sitzen?" Pipi strickt etwas Blauweißes während der gemeinsamen Wartepause (wie Pipis Matrosenanzug) und schaut mich über ihr Strickzeug aufmerksam an. Dann antwortet sie ganz ernsthaft.

Pippi Langstrumpf studiert an einer privaten Schule Kommunikationsdesign und da Private (noch) sündhafter teuer sind als der Staat demnächst sein wird, wartet Pippi auf einen Studienplatz für Kulturmanagement an einer staatlichen Hochschule. Außerdem vergeben die ein ordentliches Diplom und sie könnte noch ihren Doktor machen in ihrem Hauptfach (Informatik gestützte Designprojektierungsmethodik). .

Pippis flotte Wissenschaftssprache fließt aus dieser jämmerlichen Ticketbude wie ein Muntermacher und läßt mir die Adresse einer Uni einfallen, an der soeben ein Parallelstudiengang für genau Pipis Fächer eingerichtet wurde. Die prüfen dort alle Bewerber persönlich", sage ich, „egal wieviel sich melden." Pipi strahlt und ich fühle mich wie früher, wenn die Kinder ein Eis ersehnten und ich ganz weit vorne ein „Schöller-" Schild lese. Pippi bittet um meine karte ("Typen wie Sie haben doch sowas immer bei sich, nicht?“). „Wenns klappt, stricke ich Ihnen was zum Dank!" Ich sage noch, bitte was Blauweißes" (Celle-Uelzen-Lüneburgs Stadtfarben sind blauweiß/weißblau) und muß dann anfahren.

Fähren und ihre winzigen Ticketbuden und die Schlangen davor sind vorübergehende Gefängnisse, von denen aus man auch die große Freiheit finden kann. Wie in den Büchern in langen Regalen. Pitschwach muß man nur sein und Kommunikation designen können.

21.09.2004